Die Kontaktstelle Frau und Beruf Neckar-Alb mit Sitz in Reutlingen ist Teil eines Landesprogrammes Baden-Württemberg. Sie bietet Frauen individuelle Beratung zu allen beruflichen Fragen, von der beruflichen Orientierung über den Wiedereinstieg bis zur beruflichen Weiterentwicklung. Eine auch aus nachhaltiger Sicht immens wichtige Aufgabe.
Die UN verabschiedete 2015 17 Ziele für nachhaltige Entwicklung (englisch Sustainable Development Goals, SDG). Das SDG Nummer 5 ist gender equality: „Gleichstellung der Geschlechter“. Frauen zu fördern, sie gerecht zu entlohnen und ihnen berufliche Weiterentwicklung zu ermöglichen ist nicht nur deshalb ein wichtiger Bestandteil einer jeden nachhaltigen Unternehmensstrategie und wird somit eingefordert.
Die traurige Wahrheit: Seit Jahrzehnten diskutieren wir über die Genderlücke, haben aber die Gleichstellung von Frauen und Männern in vielen Punkten noch nicht umgesetzt. So konnte etwa die Einkommenslücke zwischen den Geschlechtern bis heute nicht zufriedenstellend geschlossen werden.
Die Kontaktstellen Frau und Beruf sind auch Ansprechpartnerinnen für die Wirtschaft und für Unternehmen, die sich für Chancengleichheit und die berufliche Frauenförderung einsetzen. Dazu gehören Partner-Netzwerke, Kontaktpflege und Verbindungen zu anderen, relevanten Netzwerken und Kooperationen herzustellen, um die Gleichstellung von Frauen im Berufsleben zu fördern.

Auf der soliden Basis aus mehr als 25 Jahren Mitarbeit leitet Gesine Hungerland die Kontaktstelle Reutlingen. Dr. Ulrike Landmann und Britta Saile sind als Beraterinnen im Ländle unterwegs. Mit ihnen unterhielt ich mich online über die zahlreichen Aufgaben, die die insgesamt fünf Mitarbeiterinnen engagiert und mit viel Herzblut betreuen. Um ein paar Zahlen zu nennen: 2021 wurden 504 Beratungsgespräche durchgeführt, davon 257 Intensivberatungen.
Wie entstand das Netzwerk der Kontaktstellen Frau und Beruf?
Das Landesprogramm gibt es seit über 25 Jahren, hervorgegangen aus einem Modellprojekt, damals noch für kleinere und mittlere Unternehmen und Wiedereinsteigerinnen. Das hat sich im Laufe der Zeit immer mehr ausdifferenziert. Inzwischen gibt es in Baden-Württemberg flächendeckend Kontaktstellen, zum Teil mit sehr großen Einzugsgebieten. Wir in Reutlingen sind für die drei Landkreise Tübingen, Reutlingen und Zollernalb zuständig.

Im Kreis sind wir die einzige Anlaufstelle, die bei beruflicher Orientierung hilft, ohne ein Amt zu sein. Wir sind keine Behörde, und wir sind neutral. Wer keine Daten angeben möchte, kann sich bei uns auch anonym beraten lassen. Das ist elementar und unterscheidet uns.
Wie ist die Kontaktstelle vernetzt?
Wir arbeiten viel in Kooperationen. Wir sind eng vernetzt mit der Arbeitsagentur, mit den Landratsämtern, mit den Kammern. Wir sind im Arbeitskreis vom Europäischen Sozialfonds.
Unser Anstellungsträger ist die Volkshochschule. Das hat Vorteile: Wir haben einen sehr niederschwelligen Zugang. Das Image ist eher ein Bodenständiges, der VHS vertraut man. Dadurch erreichen wir alle Frauen. Unser Ziel war zum Beispiel immer, in der Beratung Frauen mit Migrationshintergrund anteilig der Bevölkerung abzubilden. Das sind in Reutlingen um die 30 Prozent, und das ist uns auch gut gelungen.
Wie erfährt man von den Beratungsangeboten der Kontaktstelle? Wo holen sie die Frauen ab?
Man muss unterscheiden. Es gibt Frauen in den Integrationskursen, deren Deutsch noch nicht sehr gut ist. Da hilft Mundpropaganda. Zum Beispiel geht eine Mitarbeiterin in die Kurse und stellt unsere Angebote vor. Wir haben auch Qualifizierungslehrgänge für Migrantinnen. Dafür sind wir in der Region bekannt. Unsere Voraussetzungen sind, dass die Frauen so viel Deutsch können, dass man sie beraten kann.
Wir holen die Frauen in den Sprachkursen ab und – für uns ganz wichtig! – egal welchen Alters, welcher Hintergrund, welche Religion, etc. Wir schauen hin, in welcher Lebenswelt sie sind. Darunter sind auch Frauen, die sehr gebildet, aber des Deutschen noch nicht mächtig sind.
Die Kontaktstelle ist erreichbar über unsere Website www.frauundberuf-rt.de sowie über Facebook und LinkedIn. Weitere Infos gibt es über unseren Newsletter und die Amtsblätter.
Wir bieten allen interessierten Frauen Einmalberatungen, so ist es vom Land vorgesehen. Wiederholungsberatungen sind von Fall zu Fall möglich. Aber alles, was in Richtung Coaching und Alltagsbegleitung geht, können wir nicht leisten.
Eine Frau möchte nach Jahren zurück ins Berufsleben, sich verändern, weiß aber noch nicht genau, wohin die Reise gehen soll…
Ja, das ist eine ganz häufige Frage, meist von Frauen ab Mitte 40, 50, wo sich die Sinnfrage stellt. Mütter, die nach 20 Jahren wieder einsteigen wollen, sagen, ich habe zwar einen Beruf, aber der hat mir nicht wirklich Spaß gemacht. Dann ist es wichtig zu schauen, was ist realistisch, machbar, welcher Wunsch besteht, wobei erstmal gilt: Alles ist möglich. Aber es ist auch wichtig, davon leben zu können.
Wir verstehen uns als Lotsen. Oft geht es in der Stunde, die wir für individuelle Beratung haben, den Frauen mehr darum, sich zu sortieren.
Was spielt das Alter für eine Rolle?
Häufig schwingt bei Ü 40 die Befürchtung mit, will mich überhaupt noch jemand? Wir verweisen gerne auf die Vorteile von Berufs- und Lebenserfahrung. Es gibt Senioren-Azubis, die noch eine Ausbildung machen. Man hat ja heute mit Mitte 50 mindestens noch zehn Jahre Arbeitsleben vor sich. Und der Arbeitsmarkt und seine Anforderungen verändern sich ja ständig. Lebenslanges Lernen ist wichtig.
Auch für Frauen gilt, am Ball zu bleiben, am besten mit Freude am Lernen und Weiterbilden. In der Erwachsenenbildung hat sich zudem viel getan. Früher galt: Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr. Heute weiß man, dass das nicht stimmt. Und: Die Jungen sind schneller, die Alten kennen die Abkürzungen.
Wie stehen Sie in Kontakt mit Unternehmen?
Wir haben beispielsweise ein Format, wo wir mit zirka zehn Frauen in die Unternehmen gehen und uns mit Geschäftsführung oder Fachkräften unterhalten. Wir stellen fest, dass manches Unternehmen nicht vorrangig auf Qualifikation schaut und mehr darauf, ob die Person zum Unternehmen passt.
Sobald es pandemiebedingt möglich ist, nehmen wir das Format wieder auf und freuen uns auch über Einladungen aus Unternehmen.
Sind Frauen auf Arbeitssuche unsicherer als Männer?
Was wir oft erleben: Es gibt eine Stellenausschreibung mit zehn Anforderungen, und wenn eine davon nicht erfüllt ist, bewirbt frau sich nicht. Da sind Männer frecher. Mut machen gehört zu unserer Arbeit.
Sie haben auch ein Gründerinnen-Netzwerk aufgebaut.
Das sind über 160 Frauen, die gründen wollen und Frauen, die schon länger Unternehmerinnen sind. Themenbereiche bislang sind Coaching, Design, Produktion, kleine Geschäfte, Einzelunternehmerinnen, Soloselbstständige. Unser Hauptziel ist: Vernetzt euch! Wir haben sechs Netzwerkabende pro Jahr, immer mit einem Impuls und Expertinnen aus dem Netzwerk. Vorab fragen wir, was am meisten interessiert. (Weitere Veranstaltungen gibt es hier)
Wie sieht es mit den Themen Nachhaltigkeit, Gendergap, etc. aus?
Unsere Kollegin Britta Saile bietet ein Format „Grüne Jobs“ an. Da wird stets sehr lebhaft diskutiert über faire Unternehmen, wie definiere ich grün?, was ist Nachhaltigkeit?, wo möchte ich gerne arbeiten?.
Gleichstellung im Beruf ist nach wie vor ein schwieriges, nicht gelöstes Thema. Größere Unternehmen legen mittlerweile Wert auf Diversity und Gender; sie mussten mit der Zeit gehen, das kleinere Unternehmen auf der Alb nicht unbedingt. Das betrifft sowohl Frauen als auch Ältere. Da muss sich – Stichwort demographischer Wandel – noch was tun.
Nur weil wir meinen, dass es für Frauen mehr Teilhabe und Gerechtigkeit am Arbeitsmarkt geben sollte, ist das für ein Unternehmen noch lange kein Grund, das umzusetzen.
Aber es ist doch so: Frauen machen mehr als 50 Prozent der Bevölkerung aus; in den für Arbeit relevanten Altersgruppen liegt das Verhältnis ebenfalls bei zirka fünfzig-fünfzig. Ohne die Frauen besser in den Arbeitsmarkt zu integrieren, werden wir all die notwendigen Maßnahmen für mehr Nachhaltigkeit nicht umsetzen können.
Zu guter Letzt unser kleiner neckar-alb.blog Fragebogen an Ulrike Landmann
Welches Auto fahren Sie?
“Form follows function”: Ein altes Modell, das mich als Zugersatz sicher von A nach B bringt.
Welche kleine Biosünde gönnen Sie sich?
Zitrusfrüchte und Mangos statt saisonalem und regionalem Obst.
Wie sieht die Welt von morgen aus?
Bunt, friedlich, gerecht.
Ihre Empfehlung für einen weiteren Blogbeitrag?
Ein Beitrag über junge (Schüler-)Start-ups mit grünen Ideen/Klimaschutz-Ideen sowie über die Bewerberinnen beim Female Founders Cup und anderen Wettbewerben, unter anderem unserem Elevator Pitch im Oktober 2022.
Text: Elke Schwarzer
Bilder: Kontaktstelle Frau und Beruf