Vor einigen Wochen meldete sich beim Neckar-Alb-Blog das Start-Up Legend Espresso aus Tübingen. Legend Espresso hat sich die Entwicklung einer „konsequent nachhaltigen High-End Espresso-Maschine, die weitestgehend aus recycelten und nachwachsenden Rohstoffen hergestellt sein soll,“ auf die Fahne geschrieben. Nachhaltige Espresso-Maschinen? Wir waren neugierig — und so fuhr ich nach Tübingen ins Französische Viertel.
Legend Espresso hat seine Räume dort in einer ehemaligen Reithalle, die es sich mit anderen Start-Ups teilt. Die Atmosphäre ist sehr informell: Ein Vorraum mit Stühlen und Sofas – an zentraler Stelle eine Kaffeetheke (mit einer konventionellen Espresso-Maschine).
Frankenstein
Verabredet war ich mit Martin Zobel, sein Kollege Matti Marsch stieß hinzu. Wir einigten uns schnell aufs Du. Stolz zeigten mir die beiden in ihrer Werkstatt das Labor-Modell ihrer geplanten Espresso-Maschine: Frankenstein.
Auf einem dicken Brett, das als Grundlage dient, ist ein weiteres vertikal aufgeschraubt. Vorn am senkrechten Brett ist der Brühkopf befestigt. Dahinter befinden sich Edelstahl-Rohre, Pumpe, Heizelemente und weitere Elektronik-Bauteile. An Frankenstein angeschlossen sind ein Messgerät und ein Notebook.
Natürlich wird die fertige Maschine so nicht aussehen, aber zum Experimentieren ist ein offener Aufbau ohne Gehäuse besser geeignet.
An der Wand hängt ein Bild des geplanten Gehäuses in elegantem Design. „Nicht fotografieren“, bittet mich Martin.
Nachhaltige Eigenschaften
Ich bin bekennender Laie, was Espresso-Maschinen betrifft: Was ist an den Espresso-Maschinen, die ich momentan im Laden kaufen kann, nicht nachhaltig?
Martin zählt einige Punkte auf:
- Konventionelle Maschinen haben relativ große Wasserbehälter. Diese Wasserbehälter werden auf hoher Temperatur gehalten, wenn die Maschine eingeschaltet ist. Dadurch kann bei Bedarf der Espresso schnell gebrüht werden. Aber dieses Warmhalten kostet Strom. Um dies zu verbessern, will Legend Espresso einerseits eine hohe Temperaturstabilität (wie bei High-End Gastro-Maschinen) erreichen und andererseits nicht die dafür üblichen 8–12 Liter heißes Wasser vorhalten müssen. Bei optimaler Isolierung soll ein halber Liter heißes Wasser reichen. Eine Aufgabe für Tüftler.
- Die verbauten Komponenten müssen nachhaltig sein – sowohl was ihre Herkunft als auch ihre mögliche Entsorgung betrifft. So verbieten sich z.B. Verbundstoffe.
- Eine nachhaltige Maschine muss einfach zu warten und zu reparieren sein. Viele konventionelle Maschine werden entsorgt, weil „die Reparatur sich nicht mehr lohnt”.
Die Vision von Legend Espresso: Ein Gerät zu konstruieren, das so robust ist und dessen Design so ansprechend ist, dass es auch den Nachkommen noch Freude bereitet, — und ein Gerät, das ein durch Anleitungen und Videos geschulter Laie selbst zusammensetzen und auseinandernehmen kann. Dazu gehört auch, dass Steuerungs-Software als Open Source (öffentlich zugänglicher Quell-Code) zur Verfügung gestellt werden soll.
Herausforderungen
Der Teufel liegt wie so oft im Detail:
- Wer nachhaltige Komponenten verbauen möchte, braucht Lieferanten, die selbst nachhaltige Lieferketten nutzen und nachhaltig produzieren. Hierfür sucht Legend Espresso noch nach weiteren Partnern.
- Die genutzten Komponenten müssen langlebig sein. Martin Zobel nennt ein Beispiel: „Die eingebaute Pumpe wird in der Dialyse verwendet. Die ist auf 50.000 Stunden Dauerlauf konzipiert.”
- Die Komponenten müssen, falls sie doch ausfallen sollten, wiederbeschafft werden können. Deshalb muss Legend Espresso auf langfristig verlässliche Lieferanten und normierte, häufig verwendete Bauteile achten.
Daher möchte die Öffentlichkeitsarbeit des Teams im Augenblick weniger potentielle Kunden als potentielle Partner ansprechen.
Nachhaltiger Espresso?
Vor dem Treffen erzählte ich einer Bekannten, ich würde eine Firma besuchen, die nachhaltige Espresso-Maschinen herstellen möchte. Sie winkte nur ab: „So etwas ist doch witzlos, da schon die Produktion der Kaffee-Bohnen nicht nachhaltig ist.“
Martin und Matti sind sich dieses Problems wohl bewusst. Allerdings ist ihnen diese Aussage zu pauschal: Auch beim Röstkaffee habe sich im Hinblick auf Produktionsbedingungen und Nachhaltigkeit viel getan. Sie gehen auch davon aus, dass ihre Maschine überwiegend Käufer ansprechen werde, die schon lange beim Kauf von Kaffee darauf achten, dass dieser fair und möglichst nachhaltig produziert wurde.
Dagegen sehen sie wenig Entwicklung bei den konventionellen Espresso-Maschinen: Zwar seien die Geräte inzwischen durch Touch-Screen und Bedienung über App modernisiert worden, an der Technik innerhalb der Maschine habe sich jedoch wenig geändert. Bei der Auswahl der Materialien, Wartbarkeit und Langlebigkeit plant Legend Espresso einiges in Richtung Nachhaltigkeit voranzubringen.
Stellt sich noch die Frage: Kann man Nachhaltigkeit messen? Martin und Matti haben darüber nachgedacht und orientieren sich z.B. an der NGO Cradle-to-Cradle. Allerdings machen Zielkonflikte eine eindeutige Bewertung von Design-Entscheidungen schwierig. Ein Beispiel: Edelstahl ist einerseits langlebig und gut recyclebar. Andererseits ist Edelstahl ein guter Wärmeleiter, wodurch es schwieriger wird, Wärmeverluste zu vermeiden.
Das fertige Produkt
Martin Zobel und seine Mitstreiter sind bekennende Espresso-Fans. Deshalb geht es ihnen nicht nur um Nachhaltigkeit, sondern auch darum, das Optimum aus dem gemahlenen Kaffee (auch als Kaffeemehl bezeichnet) herauszuholen. Und da gibt es einiges zu tüfteln.
Beispiel Druck: Idealerweise sollte die Fließrate des Wassers durch das Kaffeemehl konstant bleiben. Dazu muss der Druck gesteuert werden: Zu Beginn des Brühvorgangs wird mit niedrigem Druck gestartet, damit das Wasser nicht zu schnell durch das trockene Mehl geschickt wird. Wenn das Mehl erst einmal aufgequollen ist, muss der Druck erhöht werden. Sobald das Wasser sich Kanäle durch das Mehl gebahnt hat, muss der Druck wieder verringert werden. Bei Frankenstein kann der Druck durch einen mechanischen Hebel gesteuert werden. Und wenn der ideale Druckverlauf für eine Sorte Kaffeemehl gefunden ist, kann er in der Elektronik abgespeichert werden.
Im Oktober dieses Jahres soll die Entwicklung von Frankenstein abgeschlossen sein. Das Team erwartet, dass es ein weiteres Jahr dauern wird, bis aus dem Labormodell ein verkaufsfertiges Produkt entstanden ist und die Produktion anlaufen kann.
Angestrebt wird eine erste Auflage von 300 Maschinen, die im eigenen Online-Shop verkauft und 2025 geliefert werden sollen. Das Zielpublikum sind private Haushalte.
Das Team kann sich vorstellen, danach das Produkt
- weiter in Richtung Nachhaltigkeit zu entwickeln
- für Kunden aus der Gastronomie anzupassen
- in Kleinserien mit speziellem Design für Liebhaber aufzulegen
In jedem Fall wird die Legend Espresso nicht am Fließband produziert werden. Daher sucht das Start-Up noch nach Partnern, die als Zulieferer agieren und/oder beim Zusammenbau der Maschinen mitarbeiten.
Manufaktur hat allerdings auch ihren Preis: Martin Zobel rechnet mit ungefähr 4000 Euro für eine fertige Maschine. Der Bausatz für Kunden, die sich die Maschine selbst zusammenbauen wollen, wird günstiger sein.
Das Team
Das Team Legend Espresso besteht aus 13 Personen.
Haben die sich alle mal beim Bier getroffen und beschlossen ein Start-Up zu gründen?
Martin wehrt ab: Er sei ein großer Espresso-Fan und habe die Idee gehabt, eine nachhaltige Maschine zu bauen. Daher habe er mehrere Personen angesprochen und mit der Zeit habe sich daraus ein Team gebildet, in dem Menschen aus verschiedenen Fachgebieten zusammenarbeiten.
Martin zählt auf: Er selbst kommt aus dem Design. Matti ist Experte für Lieferketten. Daneben gibt es weitere Ingenieure, Experten aus verschiedenen Fachbereichen und einen Barista. Sogar ein Professor für Thermodynamik aus Wuppertal arbeitet in seiner Freizeit mit.
Das Team ist selten gemeinsam im selben Raum: Die meisten Besprechungen werden als Videokonferenz abgehalten.
Team-Mitglieder arbeiten in der Regel nicht ausschließlich für Legend Espresso, die meisten haben einen Brotberuf, manche – wie Martin – arbeiten auch in anderen Start-Ups mit.
Der Anteil jedes Mitglieds an einem zukünftigen Gewinn hängt vom Wert der individuellen Arbeitsbeiträge ab, der bei der Definition der Arbeitspakete abgeschätzt wird.
Start-Up-Biotop
Erleichtert wurde die Formierung des Teams durch die Umgebung, in der Legend Espresso eingebettet ist. Die Räumlichkeiten sind als Co-Working-Space für Start-Ups ausgelegt: Wenn Platz ist, kann sich ein neues Team relativ einfach einnisten.
Organisatorisch und rechtlich ist Legend Espresso Teil von your.company, einem Netzwerk, das Start-Ups bei der Gründung unterstützt und gleichzeitig Dienstleistungen, wie IT und Buchhaltung, zur Verfügung stellt. Die anfänglichen Mitgliedsbeiträge sind niedrig und erhöhen sich erst, wenn ein Start-Up Gewinne macht.
Das Netzwerk vereinfacht auch die Suche nach ExpertInnen, die für die Verwirklichung einer Idee gebraucht werden.
Mein Fazit
Da ich selbst kein Espresso-Aficionado bin, habe ich am Anfang mit dem Thema etwas gefremdelt. Trotzdem fand ich das Gespräch mit Martin und Matti spannend:
• Die Lust am Tüfteln und die Freude über eine pfiffige Lösung konnte ich sehr gut nachvollziehen.
• Die Fragen, die das Team Legend Espresso beantworten muss, stellen sich bei jedem Versuch, ein nachhaltiges Produkt zu entwerfen: nachhaltige Zulieferer, langlebige Bauteile, nachhaltige Produktion, langfristige Versorgung mit Ersatzteilen, einfache Reparatur, umweltfreundliche Entsorgung – am besten in Kreislaufwirtschaft. Deshalb werde ich weiterverfolgen, welche Antworten Legend Espresso finden wird.
• Die Start-Up-Szene in Tübingen kannte ich bisher nicht. Daher war ich überrascht von dem niederschwelligen Angebot an Räumen und Basisdienstleistungen, wie Legend Espresso sie vorgefunden hat. Ein Ansatz, um Start-Ups über die organisatorischen Hürden einer Unternehmensgründung zu helfen.
Meine Gesprächspartner
Martin Zobel
Martin ist Designer mit Leib und Seele und u.a. Dozent an der Akademie der Bildenden Künste München im Fachbereich ‘Motion Design‘.
In den letzten zehn Jahren hat er mehrere Start-ups mitgegründet, die sich stets dem Ziel verschrieben, die gesellschaftliche Transformation aktiv mitzugestalten.
Als zweifacher Vater sieht er immer klarer, wie dringend es ist, unsere Ressourcen verantwortungsbewusst zu nutzen.
Martin hat sich als leidenschaftlicher (Hobby-)Barista jahrelang intensiv mit Kaffee und dessen Zubereitung auseinandergesetzt.
Allerdings hadert er damit, dass der Genuss von Kaffee mit einem unverhältnismäßig hohen Energieaufwand einhergeht.
Die Quintessenz aus diesem Dilemma führte schließlich zur Idee von Legend Espresso.
Lieblingsfragen unseres Blogs: Welches Auto fährst Du und welche Umweltsünde begehst Du?
Martin fährt einen Turan und seine bewusst begangene Umweltsünde ist Kaffeetrinken.
Matti Marsch
Matti ist Experte für Lieferketten und ein passionierter Kaffee-Nerd.
Seine Bachelorarbeit beschäftigte sich damals mit der Untersuchung der Auswirkung von Fermentation im Nachernte-Verfahren auf die Qualität und die Geschmacks-Nuancen von Kaffee. Seine mittlerweile langjährige Erfahrung als Produktmanager und seine Expertise im Bereich „Specialty Coffee“ sind ein absoluter Glücksfall für Legend Espresso. Mattis Schwerpunkt liegt im Aufbau und Management des ERP/Warenwirtschaftssystems und nachhaltiger Lieferantenstrukturen — sowohl für die Prototypen als auch für die spätere Serienproduktion der Maschine.
Lieblingsfragen unseres Blogs: Welches Auto fährst Du und welche Umweltsünde begehst Du?
Matti fährt einen Lasten-e-Bike und kann sich im Winter das Snow-Boarding nicht verkneifen.
Text: Thomas Damrau