Nachhaltigkeit ist ein Zukunftsthema. Kein Zweifel. Doch woher kommen die benötigten Experten für Nachhaltigkeit? Wo stehen die Hochschulen der Region beim Thema Nachhaltigkeit?
Dem neckar-alb.blog ist zunächst die Hochschule in Esslingen aufgefallen, die Nachhaltigkeit prominent auf ihrer Website präsentiert. Auf meine Anfrage erhielt ich eine Einladung zur Videokonferenz.
Gesprächspartnerinnen waren Professorin Carla Cimatoribus und Anja Necker.
Carla Cimatoribus studierte zunächst Chemische Verfahrenstechnik in Padua und promovierte danach in Stuttgart über Regelungstechnik für Abfallbehandlungsanlagen. Sie lehrt seit 2014 in Esslingen, hat zwei MitarbeiterInnen und gehört zur Fakultät Angewandte Naturwissenschaften, Energie- und Gebäudetechnik. Sie ist Umweltmanagement- und Nachhaltigkeitsbeauftragte der Hochschule.
Anja Necker ist in Stuttgart geboren und studierte an der Uni Hohenheim Wirtschaftswissenschaften mit der Vertiefung Umweltmanagement. Sie arbeitet seit 2010 für die Hochschule Esslingen. Als hauptamtliche Umweltmanagerin der Hochschule gehört sie zum Stab der Hochschulleitung.
Wie hat sich das Thema Nachhaltigkeit in Esslingen entwickelt?
Auslöser war ein Öko-Audit nach EMAS, dem sich die Hochschule im Jahr 2012 unterzogen hat. Daraus entstanden mehrere Projekte. Ein Nachhaltigkeitszentrum wurde eingerichtet. Mitte des letzten Jahrzehnts ist das Thema unter anderem wegen Personalfluktuation etwas in den Hintergrund getreten.
Die Proteste von Fridays-for-Future rückten das Thema wieder mehr in den Fokus, auch in der Industrie und in der Hochschulleitung.
Außerdem sind die Jugendlichen, die heute auf die Straße gehen, die StudentInnen von morgen: Nachhaltigkeit ist ein Thema, mit dem die Hochschule für sich werben möchte.
Seit 2010 treiben einige Professoren und Professorinnen Nachhaltigkeit voran. Die Gebäudetechnik war einer der ersten Studienbereiche mit mehr Fokus auf ökologische Aspekte. In den letzten Jahren hat sich jedoch das Interesse an allen Lehrstühlen noch einmal erhöht.
Unter den Hochschulen gilt Esslingen heute als eine der Vorreiterinnen in Sachen Nachhaltigkeit. Auch die frühzeitige EMAS-Zertifizierung zeigt, dass die Hochschule beizeiten am Thema Nachhaltigkeit dran war. Dennoch ist Nachhaltigkeit kein Alleinstellungsmerkmal für Esslingen – andere Hochschulen haben sich noch deutlicher positioniert.
Wie hat sich das Verständnis von Nachhaltigkeit entwickelt?
Zu Beginn des Jahrhunderts war Nachhaltigkeit ein eher trockener Begriff. Der Zusammenhang zwischen ökologischer Nachhaltigkeit, sowie ökonomischer und sozialer Nachhaltigkeit wurde übersehen. Diese drei Aspekte müssen aber gemeinsam verfolgt werden.
Im Rahmen des Studium Generale 2019 wurde in einer Vortragsreihe zu Klimawandel und Umwelttechnik die Verbindung zwischen Ökologischem, Ökonomischem und Sozialem beleuchtet.
Heute versteht man unter Nachhaltigkeit keine Sammlung von Einzelfragen, sondern eine integrierte Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft. Dieses Verständnis kommt inzwischen in Hochschulen und Wirtschaft an.
So umfasst Nachhaltigkeit heute, zum Beispiel in der Bauwirtschaft, mehr als nur das Recycling von Beton. Intensivere und längere Nutzung von Gütern und Infrastrukturen gehören ebenso dazu.
Durch Gebäude werden 30 Prozent der CO2-Emissionen erzeugt. Die technischen Lösungen für deren Reduzierung sind nicht wirklich neu – aber inzwischen hat das Thema endlich die nötige Aufmerksamkeit.
Nachhaltigkeit hat die Betriebe erreicht: Heute verstehen die StudentInnen nach ihrem Praxissemester die Wichtigkeit ökologischer Aspekte in Industrie und Unternehmen.
Sind Ökonomie und Ökologie vereinbar?
Hier ist noch viel zu tun. Heute wird meist ein Kompromiss zwischen Ökonomie und Ökologie gesucht. Damit betriebswirtschaftliche Überlegungen Ökologie angemessen berücksichtigen, müssen sich an vielen Stellen die Spielregeln ändern. Die wahren ökologischen und sozialen Kosten der Güter müssen sich im Preis widerspiegeln.
Aus volkswirtschaftlicher Sicht ist CO2 ein Produktionsfaktor wie andere auch und muss bei der Gestaltung von Steuern und Abgaben berücksichtigt werden. So gehören zu einer CO2-Steuer auch CO2-Zölle (im Green Deal „CO2-Grenzausgleichssystem“ genannt), um Produktionsverlagerungen in Länder mit laxer Klimapolitik zu erschweren.
Natürlich ist Ökologie auch eine ethische Frage: Unsere Einstellung muss sich ändern, damit Ökologie nicht nur unter Kostengesichtspunkten berücksichtigt wird. Dennoch ist Geld ein wichtiges Steuerungsinstrument: Bei der Hochschulinfrastruktur hat Esslingen einen Rückstau bezüglich energetischer Sanierung, weil sie sich unter den gegebenen Rahmenbedingungen nicht rechnet.
Für eine Kreislaufwirtschaft sind neue Geschäftsmodelle nötig. Wenn künftig weniger Güter gekauft werden und stattdessen Firmen die Nutzung von Gütern als Dienstleistung anbieten, bedarf dies anderer Finanzierungsmodelle. Das wird Anpassungen bei der Besteuerung und bei der Kreditvergabe durch Banken erfordern. BetriebswirtInnen müssen mit diesen neuen Geschäftsmodellen umgehen können.
Wie wird Nachhaltigkeit in Esslingen gelehrt?
Der Lehrplan sollte nicht nur einen grünen Anstrich bekommen.
Die Hochschule will keine BetriebswirtInnen oder IngenieurInnen, die als Add-On Nachhaltigkeit studieren. Stattdessen sollten Nachhaltigkeitsgrundsätze integraler Bestandteil eines jeden Studiengangs sein. Alle StudentInnen sollen lernen, an ihrem künftigen Arbeitsplatz mit der Begrenztheit von Ressourcen umzugehen.
Nachhaltigkeit wird in allen Bereichen gelehrt. Dennoch gilt die Freiheit von Forschung und Lehre. Alle DozentInnen bestimmen selbst, in welcher Form und in welchem Umfang sie Nachhaltigkeit lehren. Einige DozentInnen sind sehr engagiert. Andere Lehrstühle sind noch zurückhaltend — was dazu führt, dass in einigen Bereichen Nachhaltigkeit eher Zusatzkurs als integraler Bestandteil ist.
Professorin Carla Cimatoribus und Anja Necker versuchen, die Integration von Nachhaltigkeit in die Lehrpläne voranzubringen, in dem sie im Rahmen des EMAS-Prozesses mit den Fakultäten das Gespräch suchen oder Kurse zum Kennenlernen der Sustainable Development Goals anbieten.
Ist Nachhaltigkeit für StudentInnen wichtig?
Bei der Motivation der StudentInnen gibt es zwei Extreme. Einerseits fühlen sich viele StudentInnen der Fridays-for-Future Bewegung verbunden und beschäftigen sich sehr bewusst mit Nachhaltigkeit. Diese Gruppe ist aber noch nicht die Mehrheit. Die eher “konservativen” StudienanfängerInnen müssen erst abgeholt werden.
Nach dem Studienabschluss sehen sich die StudentInnen oft noch mit einer Realität konfrontiert, die anders ist als die an der Hochschule gelehrte. Im Augenblick landen viele Bachelor-Arbeiten über Ökobilanzen in der Schublade. Dennoch gibt es Anzeichen, dass bald ein “Kipppunkt” erreicht sein könnte, nach dem die Studieninhalte sehr viel rascher Einzug in die betriebliche Praxis halten werden.
Fragen Arbeitgeber nach AbsolventInnen mit Qualifikationen in Nachhaltigkeit?
Nachhaltigkeit allgemein wird selten in Stellenausschreibungen gefordert. Arbeitgeber fragen immer noch zunächst nach “harten” Kompetenzen: Können die IngenieurInnen “rechnen” und mit Technologie umgehen? Nachhaltigkeit wird von Firmen als interessante Zusatzqualifikation gesehen. Spezialkenntnisse in Lieferketten-Management und Ökobilanzen werden inzwischen explizit gesucht.
Eine Änderung der gesetzlichen Rahmenbedingungen wird auf dem Arbeitsmarkt eine Nachfrage nach ExpertInnen generieren, die in Nachhaltigkeit bereits ausgebildet sind.
Umgekehrt beurteilen AbsolventInnen ihre möglichen Arbeitgeber verstärkt nach deren Image im Bereich Nachhaltigkeit. (Dabei sehen AbsolventInnen auch Work-Life-Balance als einen Aspekt von Nachhaltigkeit.) Da bei IngenieurInnen Fachkräftemangel herrscht, können Arbeitgeber diese Erwartung nicht ignorieren.
Wie forschen Sie zum Thema Nachhaltigkeit?
Die Hochschule Esslingen betreibt keine Grundlagenforschung und hat kein Promotionsrecht – das bleibt den Universtäten vorbehalten.
Esslingen arbeitet aber in Forschungsverbünden mit Universitäten zusammen, zum Beispiel mit der Uni Tübingen im Bereich Energie und Windenergie. Durch Kooperationen mit Universitäten bieten sich StudentInnen Möglichkeiten zur Promotion, betreut von der kooperierenden Uni.
Der Schwerpunkt der Hochschule liegt auf der angewandten Forschung, also der Umsetzung der Ergebnisse der Grundlagenforschung in Produkte und Projekte – oft in Kooperation mit der Industrie.
Verbundprojekten mit der Industrie kommen meist nur zu Stande, wenn staatliche Stellen diese Projekte finanziell fördern. Lediglich Daimler und Bosch finanzieren Gemeinschaftsprojekte direkt. Nachfrage kommt vor allem aus der Automobil- und Baubranche. Interessant für die Bauindustrie sind zum Beispiel Techniken zur Datenanalyse von ökologischen Kenngrößen.
Was sind Forschungsschwerpunkte?
Forschungsschwerpunkte sind unter anderem Mobilität und nachhaltige Energietechnik.
Eines von vielen Beispielen: Professor Stefan Rösler entwickelte für die Stadt Heidelberg einen digitalen Zugang zu Mobilitätsangeboten. Im Rahmen von Eco Fleet wird Mitarbeitern der Stadt über eine Smartphone-App die Auswahl und Buchung von nachhaltigen Mobilitätsangeboten erleichtert. Dazu mussten technische Schnittstellen zu Prozessen wie Fuhrpark-Management und Dienstreise-Buchung geschaffen werden.
Zum Thema Energietechnik gehört auch das Gebäude-Management. Bei der Forschung zum Energie-Management von öffentlichen Gebäuden benutzt Esslingen die eigene Hochschulinfrastruktur als Reallabor. Das Land Baden-Württemberg rechnet dabei schon mit einem CO2-Preis von € 180 pro Tonne. Auf Grund der Erfahrungen wird erwartet, dass mit steigenden CO2-Preisen der Zusammenhang zwischen Gebäude-Management und Klimagasen für ein breiteres Publikum interessant werden wird.
Auch an anderer Stelle werden Forschungsergebnisse an der Hochschule selbst umgesetzt: Das neue Hochschul-Gebäude in der Weststadt wurde mit Blick auf Nachhaltigkeit gebaut und wird nun nach dem Bewertungssystem Nachhaltiges Bauen zertifiziert.
Zuletzt ein kleiner Fragebogen zum persönlichen Umgang mit Nachhaltigkeit
Prof. Cimatoribus | Frau Necker | |
Welches Auto fahren Sie? | Fiat 500 | Golf Combi |
Wie wird Ihr Haus geheizt? | Öl | Gas |
Welche Umweltsünden leisten Sie sich? | Fleisch essen, versucht zu reduzieren | Fleisch essen |
Was ist ihre Definition von Nachhaltigkeit? | Operatives Konzept: Wahrnehmung von physikalischen Grenzen und ihre Integration in das eigene Tun | Nur so viel konsumieren, wie nachwächst. Die Nachhaltigkeitsziele der UNO |
Bilder: Hochschule Esslingen